2020
11.16

ESO steht für „Das Elektronische Schwingkreis Orchester“ und ist ein neues spannendes Musikprojekt des Komponisten, Musikproduzenten, Bassisten & DJs Jörg Henning (Terri Belle) und des Mix- und Mastering Engineers Frederic Stader (DJ Maxximus) aus Berlin. Heute wurde das Album „Am, auf und im Wasser“ veröffentlicht und ich traf mich an einem Ort der Stille mit Jörg Henning, um ihn ein paar Fragen zum Album zu stellen.

terribleSehr klassisch entspringt der Sound wie aus einer Quelle. Etwas beseeltes, locker anmutend wie schwebendes Material, kurzum: Musik wie fließendes Wasser. Die Titelnamen der Tracks haben auch einschließlich alle mit dem Element Wasser zu tun. Deine Beziehung zu diesem Element scheint sehr ausgeprägt zu sein, woher resultiert das?

Das ist natürlich das Resultat eiskalter Berechnung, Wasser ist ein ähnlich omnipräsentes Thema wie die Liebe, damit kann einfach fast jeder Mensch etwas anfangen. Aber im Ernst: Ich wohne am Fluß, das macht schon was mit einem. Am anderen Ufer gleich gegenüber ist ein Park, jeden Tag zieht es die Leute dort ans Ufer, Menschen treiben Sport, spazieren, lesen oder sitzen einfach nur am Wasser, alle suchen die Nähe zum Fluss. Ich denke nicht, dass meine Beziehung da besonders ist, es ist einfach ein ganz natürlicher Instinkt, es fühlt sich lebendig und gut an.

Welche namentlich reellen Wasserquellen in der Gegenwart dienten dir dabei als Inspiration?

Wer sagt, dass die Story in der Gegenwart spielt? Das ist schon mit Absicht in den Titeln abstrakt gehalten. Wasser fließt schließlich auf allen Erdteilen und Wasser akzeptiert ja auch keine Grenzen oder ist deutsches, französisches oder chinesisches Wasser – es ist einfach Wasser. Natürlich hätten die Stücke auch „Die Source Eau Chaude, Der Auerbach, Auf dem Rhein, auf dem Atlantik, An den Elbbrücken, Im Nebel und An der Spree“ heißen können. Aber das ist zumindest für mich nicht der Punkt. Wasser fließt auf allen Erdteilen und ich wünschte mir, dass die natürlichen Wasserläufe mehr geschützt und geachtet würden.

Man hört der Musik einen Reinigungsprozess an. Beim ersten Hören stellte sich mir die Frage: ist es ein Orchester, welches beauftragt wurde oder softwaregesteuerte Samplepacks, die arrangiert wurden?

Reinigungsprozess? Ja, das mag sein, Wasser soll ja einen Reinigungseffekt haben (lacht). Orchester? Können wir uns nicht leisten, das ist Computermusik, mir gefällt der Begriff „faux symphonic“ – da ist kein Orchester, aber ja, du hörst ein Orchester und irgendwann haben natürlich auch richtige echte Musiker die Samples aufgenommen, im diesem Falle Musiker des Boston Symphony Orchestra. Vielleicht könnte man es auch eine Fake-Komposition nennen.

esoAuffällig ist, dass AUF DEM STROM eine besonders lange Spielzeit hat und für mich starke Bezüge – insbesondere durch die Länge und Spannung – zu Smetanas MOLDAU aufweist. Ist dies deinerseits als Quelle der Inspiration anzusehen, reiner Zufall oder Intention?

Smetana… wow… das ehrt mich natürlich, aber der war schon taub als er „Die Moldau“ komponiert hat, nicht wahr? Das macht doch deutlich, dass der Mensch nicht auf das Gehör angewiesen ist um Musik und ein musikalisches Bild zu entwerfen, allerdings darf auch die Frage erlaubt sein, ob man, wenn man „Die Moldau“ das allererste mal hören würde und nicht wüsste, wie das Stück heisst überhaupt die Assoziation zu dem Fluss hätte – aber Bedřich Smetana hatte sie – sonst hätte er es anders genannt. Grundlegend, nein ich habe über all diese Dinge nicht nachgedacht, weder an einen Ort noch an vorhandene Musik. Ich habe einfach herumexperimentiert und diese Musik gefunden, vielleicht lief irgendwo im Hintergrund mal Ravel oder Ogermann – ich mag ja Musik die man nicht hört. „Auf dem Strom“ war das erste Stück an dem ich gearbeitet habe. Das war im Frühjahr, draußen war es neblig, ich kam gerade aus Düsseldorf, wo es mich immer an den Rhein zieht. Zurück in Berlin mit der doch eher langsamen Spree vor der Haustür, fehlte plötzlich diese Energie eines großen Stromes… vielleicht wollte ich die mit der Musik herstellen. Am Anfang war das ja nur ein Rhythmus und nach und nach kamen da dann Noten und Harmonien zum Vorschein.

AM UFER vermittelt mir durch die Instrumentierung starke Bezüge zu japanischer Musik. Warst du beim Komponieren losgelöst von jeglichen Einflüssen oder gab es da auch länderspezifische musikalische Anlehnungen?

Japan, oh, ok, also natürlich fasziniert mich Japan und ich würde gerne noch einmal dort hin. Aber für die Musik hatte das überhaupt keinen Einfluß, oder Moment, ja grüner Tee und japanisches Essen, wenn also ein eher indirekter Einfluß. Ich mag die Sprache.

Große Namen schwirren gleich im Kopf herum, wenn man das Album zum ersten Mal anhört: gekonnt starke Streicherpassagen wie aus der Feder eines Philip Glass; Steve Reichs minimal loopende Orchesterwerke etc. Gibt es deinerseits Referenzen, die in das Album mit eingefloßen sind?

Wirklich? Ich finde du übertreibst, irgendwie habe ich mit dem Album einfach ausprobiert, was sich an kompositorischen Einflüssen überhaupt für mich umsetzen lässt, es gibt vielleicht in den Harmonien zum Teil ein paar Anleihen bei Ravel, aber wie gesagt, es geht mir ja nicht darum irgendwie etwas nachzumachen. Musik zu entwerfen ist ein genialer Sandkasten mit unendlichen Möglichkeiten und jetzt hat es mich einmal dahin verschlagen, eine klassische Komposition zu machen. Zeitgleich versuche ich etwas zu lernen, das ich als Kind schon nicht konnte: Noten lesen und schreiben und vom Blatt spielen. Ich bin nämlich musikalischer Legastheniker, vielleicht ist es auch eine Art Dyslexie in Bezug auf Notenschrift. Genau weiß ich das nicht, aber ich habe da tatsächlich Schwierigkeiten.

Welches klassisches Theaterstück würde gezielt das Album beschreiben oder zu mindestens inhaltlich im Ansatz treffen?

Theater, jetzt hast du mich, ich hab von Theater so gut wie keine Ahnung, ich mag es ins Theater zu gehen, aber warum du da jetzt nach ’nem Klassiker forschst? (schmunzelt)

frederic
Dein Partner in Crime Frederic Stader ist auch kein Unbekannter im Musikbiz. Wie habt ihr beide Euch gefunden und welcher Auslöser zementierte die gemeinsame Zusammenarbeit?

Ich kann mich gar nicht erinnern wie wir uns kennengelernt haben, ich wusste von Frederic Stader einfach, dass er ein Soundprofessional ist und als ich diese Ableton Files fertig hatte, war ich schon recht überzeugt davon, dass man mit diesen Arrangements etwas anfangen könnte und hab ihn angeschrieben. Ich brauchte ein anderes Paar Ohren und er war sofort bereit seine Expertise beizutragen. Von ihm kamen dann die Ideen, das ganze in 96khZ zu capturen und mit den hochauflösenden Files sind wir dann ins Studio gegangen, haben die Arrangements auf ein Mischpult gelegt und abgemischt. Da sind dann einige Klangebenen aufgetaucht, die vorher niemand gehört hatte und so haben wir im Studio auch noch Veränderungen an den Arrangements vorgenommen. Das Mastering hat Frederic dann bei sich in Köln gemacht. Er wohnt witzigerweise auch nur einen Steinwurf vom Rhein entfernt, das könnte schon Auswirkungen auf den Sound gehabt haben, aber da müssten wir dann ihn direkt mal fragen.

Du wurdest in ein Haus klassischer Musikliebhaber hineingeboren, deine Eltern hörten immerzu klassische Musik, während deine Freunde mit Popmusik aufwuchsen. Nach langer Zeit musikalischer Exzesse als Techno DJ, kehrst du nun mit diesem Album zu deiner ersten Prägung zurück. Wie bist du im Endeffekt aus dieser klassischen Welt als Jugendlicher ausgebrochen?

I’ve heard it on the radio. Wenn es um eine Einzelperson ginge, der ich offene Ohren verdanke, dann sicherlich John Peel. Seine Sendung war wöchentliches Pflichtprogramm, da saß ich mit Kopfhörer und Kassettenrecorder und habe mitgeschnitten. Aber natürlich auch die Teenagerzeit in einer westdeutschen Kleinstadt in der zweiten Hälfte der 70er, das war eine aufregende Zeit, jede Woche gab es neue Musik, überall sprießten Bands aus dem Boden, jeder der ein Instrument halten konnte spielte in einer Band und so hatte ich auch irgendwann einen Bass umhängen und war plötzlich mitten drin. Ich bin mir ziemlich sicher, ich wäre gar nicht aus der klassischen Welt ausgebrochen, hätte ich zu der ganzen Musik zuhause auch ein klassisches Instrument gelernt, aber alle Versuche mich mit traditionellen Methoden zum Musizieren zu bewegen sind fehlgeschlagen.

Insgesamt wird man mit dem Album in weiten Passagen bewegungslos getragen und ein fließender Prozess der Musik ist zu erkennen. Ist das nach Jahren klassischen Auflegens bei dir als Weg einer spirituell inneren Reise anzusehen?

Sweet, man könnte auch sagen, ich werde alt und bewege mich zu wenig und verharre deshalb in Bewegungslosigkeit. Aber ja, natürlich verändert sich das Verhältnis zu Musik über die Jahre und ja, es hat sich für mich vieles in den vergangenen Jahren relativiert. Das Auflegen mit klassischer Musik war ein Abenteuer und besonders schön, weil mein Vater plötzlich nachvollziehen konnte, was ich als DJ mit der Musik mache – das war wunderbar mit ihm kurz vor seinem Tode noch Frieden schließen zu können. Aber wenn man mal ehrlich ist, dann sind die Leute ja nicht zur Yellow Lounge gegangen, weil wir DJs dort etwas interessantes mit der Musik an den Plattentellern gemacht hätten. Also ein paar wenige, aber das Gros der Leute ist wegen den Stars der deutschen Grammophon gekommen, wir haben da bestenfalls für ein wenig Atmosphäre gesorgt. Spirituelle innere Reise, ach ja, könnte sein, vielleicht ist es einfach nur der Prozess des Älterwerdens und mein inneres Kind, das auch dagegen rebelliert.

esoNach dem Ausklingen des letzten Tracks ist man auch, wie der Name vermittelt: „angekommen“, das Ufer ist erreicht. Wie sehen deine Zukunftspläne aus – mit dem Wissen, das es seit diesem Jahr starke Einschnitte und Veränderungen für Künstler gibt?

Der Dj-Job war für mich ja schon länger gelaufen, jetzt ist das natürlich komplett vorbei. Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Jahren wieder so etwas wie ein „normales“ Nightlife erleben werden, um so schöner dass es auch in dem Bereich noch so vieles gibt, was noch nicht gemacht wurde. Essen und Musik passen toll zusammen, mich reizt es auch Filme oder Serien zu schreiben oder zu vertonen. Ein wirklicher Traum allerdings ist es, irgendwo im Warmen einen Garten oder eine kleine Farm zu betreiben. Selbstversorger statt Konsumopfer, das wäre gut. Ich bin gar nicht so pessimistisch was die Zukunft angeht. Anstatt jetzt aus der momentanen Lage ein Weltuntergangsszenario zu machen, denke ich, dass wir alle ein wenig mehr aufeinander achten und uns die nächsten Monate so gut wie es geht aus dem Weg gehen sollten.

Danke für deine Zeit.

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Das Interview führte Mister T-76.

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